Samstag, 8. September 2012

Mitschnitt eines Radiointerviews, Juli 2012


In meiner am nächsten Wochenende auslaufenden Amtszeit als stellvertretende und kommissarische Vorsitzende der Piratenpartei Berlin wurde ich von radioB2 zu einem Radiointerview mit Oliver Dunk eingeladen.

Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass ich nicht wieder kandidieren möchte, weil ich eine neue schöne berufliche Aufgabe bekomme.

Nun freue ich mich sehr über und auf meine neue Herausforderung und bedanke mich bei den Piraten für ihr Vertrauen :)

 





Sonntag, 1. Januar 2012

Der letzte und der erste Tag


Ich meditiere jetzt in das neue Jahr. Das hat sich bewährt. Als hochtrainierte Partymaus, die ich mehr als mein halbes Leben lang war, habe ich mich vor 4 Jahren das erste Mal auf einen Versuch eingelassen: Silvester mit einem Haufen fremder Menschen, die sich, alle hochnüchtern, nachdem sie ein exquisites vegetarische Buffet vertilgt haben, langsam und mit besonderer Achtsamkeit gegen 23.30 Uhr auf kleinen runden Kissen in einem Saal sammeln, um in Stille rund 1,5 Stunden ins neue Jahr rüberzuschwappen. Niemand redet, selten bewegt sich mal jemand, und wenn, dann auf eine Art, die die anderen nicht in ihrer Ruhe stören möchte.

23.00 Uhr. Perfekt. Genau wie geplant. Ich finde eine kleine Parklücke und stelle den Wagen ab. Nichtmal im Halteverbot. Zufrieden hole ich noch das Handy aus der Tasche und stelle auf lautlos, vorsorglich, nicht, dass ich es noch vergesse, später. Dann gehe ich gemächlich über die Wiese zwischen den Plattenbauten, den ausgetretenen Pfad entlang, und biege dann vor dem kleinen Pavillon um die Ecke.

Ja, das Cafe hat geöffnet. Mein Blick scannt im Bruchteil der Sekunde den gemütlich beleuchteten Raum, ach, diesmal haben sie das Buffet vorn aufgebaut. Irgendwas ist komisch. Ist denn gar keiner da? Die Freundin hatte doch erzählt, dass auf der Webseite wieder eine Jahreswechselmeditation angekündigt war. Ich hatte selbst nicht nochmal geschaut. Als ich auf die Eingangstür zugehe, spüre ich mit einem Mal Unsicherheit. Hätt ich mal nachgeguckt. Wer weiß. Vielleicht fällt es ja doch aus? Ha, die Tür geht auf, na, alles klar. 23.30 fängt die Meditation für gewöhnlich an, meine ich mich jetzt, im Gegensatz zu heute nachmittag als ich es noch genau wusste, nur noch ungefähr zu erinnern. Ich behalte meinen langsamen Gang bei, bin ja immer noch zu früh.

Als ich den Innenhof durchquere, um in den seitlichen Eingang einzutreten, nimmt mein Blick die Silhouette vieler Köpfe wahr. Köpfe, viele, aber wieso sind die so niedrig? Bevor ich diese Frage zu Ende denken kann, quatscht die passende Antwort schon dazwischen. Die sitzen. Etwa 25 cm über dem Boden, weil sich zwischen ihrem Gesäß und dem Parkett kleine runde rote Kissen befinden. Die Meditation läuft schon. Ich japse. Zu spät! Dabei war ich doch so pünktlich. Selbst das akademische Viertelchen, das mich seit frühester Kindheit beschäftigt, hatte ich ausgetrickst und die Abfahrt extra 15 Minuten vorverlegt, damit ich auf die geplante Minute los- und ankomme.

Mein Herz rast mit einem Mal. Schei..neineinein, schschsch! Das darf doch nicht wahr sein! Wie konnte, ach, was frag ich, und, oh nein, da darf ich doch gar nicht mehr rein, eine Unterbrechung ist stets ausdrücklich unerwünscht. Aber, das geht nicht, heute ist der Tag.
Ich bin jetzt eine Stunde quer durch die Stadt hierher gefahren, ok, eine Stunde minus akademisches Viertelchen, ich muss da rein, denkt es in mir, während ich mir, plötzlich völlig atemlos, den Mantel vom Leib reiße und einfach auf dem nächsten Stuhl fallen lasse. Schuhe aus, Socken an, los. Mein Herz pocht.

Auf leisen Sohlen renne ich langsam auf die Tür am Ende des Ganges zu. Ein Raum voll mit 90 Personen, ich sehe sie schon vor meinem inneren Auge, sie haben die Augen geschlossen, hoch konzentriert. Noch. Denn schon gleich werde ich ihre volle Aufmerksamkeit erhalten, weil das Geräusch, das ich gleich produzieren werde, wenn ich die Klinke langsam herunterdrücke, gar nicht so leise sein kann, dass es in dem Raum, in dem es sonst kein Geräusch gibt außer leisen Atemzügen, nicht auffallen wird.
"Wer ist das?", werden sich manche der anwesenden Gehirne fragen, "Wieso so spät?", andere, und vielleicht werden manche ein "Frechheit" dazwischenwerfen; Konzentration wird wohl den wenigsten erhalten bleiben.
Ich greife nach der goldenen Klinke und drücke sie behutsam herab. Die Tür öffnet sich und ich werde mir des hellen Strahls bewusst, den ich in die Dunkelheit hinein bringe.
"Was ist da so hell?" - "Ach, das Flurlicht", höre ich vereinzelte Gehirne denken. "Psst", denke ich, "ganz ruhig", mein Atem ist jetzt in einer solchen Verfassung, wie ich ihn nach einem 50 Meter Lauf erinnere.
Ich schlüpfe durch den Spalt, der sich in der Zarge vor mir auftut. Hinein, schon vorbei. Ich stehe der Tür zugewandt, und halte die herabgedrückte Klinke fest in meiner Rechten.
"Jetzt die Tür sachte heranziehen, hoffentlich schließt sie", schießt es mir durch den atemlosen Kopf. Erleichtert nehme ich wahr, dass die Tür geschlossen bleibt, nachdem ich die Hand löse. Doch nun, inmitten der Stille, höre ich, wie jede meiner Bewegungen Geräusche produziert, und bin mir bewusst darüber, dass etwa 70 bis 80 der anwesenden 90 Gehirne diese Audiosignale über ihre Gehörgänge zugetragen bekommen.
"Was macht die denn jetzt, jetzt steht sie da, und jetzt...", höre ich es förmlich. Ich drehe mich um 180°, fast geräuschlos, und setze mich an Ort und Stelle nieder. Nix Matte, nix Kissen, einfach so, auf den Holzboden.
Mein Puls taktet hoch, ich atme einmal tief durch, aber der Atem flattert mir.

"Der vierte Freund ist die Sammlung" sagt der Lehrer, der vorn sitzt, in seinem tiefen Bass. Sammlung, ja, das ist gut. Freund, genau, die Sammlung ist mein Freund, warum auch nicht. Nichts, was ich im Augenblick nötiger hätte, geht es mir durch den Kopf. Zum Glück mache ich seit einigen Sekunden kein Geräusch mehr. Ich tröste mich an meiner neuen Stille. Die Augen habe ich geschlossen, nicht allein um nicht gesehen zu werden, für den Fall ich hätte doch jemand gestört in seiner Meditation. Ich glaube zu spüren, dass ich niemand gestört habe, und freue mich das erste Mal angemessen, dass ich jetzt hier, inmitten der anderen, sitzen kann.

Sammlung. Das ist jetzt erstmal meine Übung. Ich konzentriere mich auf den Atem. Das kenn ich schon. Früher hat es oft nicht geklappt pünktlich Feierabend zu machen, immer wollte noch jemand etwas von mir, obwohl meine Abfahrt jeweils lang genug vorher angekündigt war. Damals bin ich häufig in solch einer Verfassung in meine donnerstägliche Yogastunde eingetreten. Sammlung. Ich sammle mich. Schöne Metapher. Passt auch irgendwie zum Jahr 2011. Inklusive Zuspätkommen. Das ist im letzen halben Jahr nicht zum ersten Mal passiert. Sammlung. Einatmen, Ausatmen. Pffuh.
Der Lehrer macht Vorschläge, an was wir denken könnten; an Zeiten, in denen wir nicht gesammelt waren, Zeiten, in denen wir Zerstreuung produzierten, Zeiten, in denen wir außer Atem waren. Und dann an all die gesammelten Zeiten. "Kenn' ich gut," finde ich heraus, "2011 habe ich viele solcher Situationen gestemmt. Aber was ich alles geschafft hab, Dunnerlittchen!" Ich lobe mich kurz selbst und fühle mich mittlerweile sehr gesammelt.

"Achtsamkeit ist Dein fünfter Freund," sagt er nun in die Stille hinein. Ah, ja, die liebe ich. Achtsamkeit, meine liebste Kür. Ich denke über Achtsamkeit nach, wann war ich in 2011 achtsam? Weil ich mir seit Jahren eine Dauerachtsamkeit angewöhnt hatte, einfach aus der Not heraus, dass ich sowieso alles und jedes wahrnehme, was um mich herum passiert, finden sich leicht Situationen, in denen ich achtsam war. Aber auch Unachtsamkeit, aus dem Affekt, hat sich in 2011 eingeschlichen, zunehmend im letzten Viertel. Glücklicherweise gab es dann den klinischen Befund der Ursache, Stress, und seit ich B-Vitamine zu mir nehme, lässt diese Unachtsamkeit nach. Täglich, mir zum Trost. Aber, dass ich nicht nochmal auf die Webseite geschaut habe, klassischer Fall von, na, was sag ich, Vitamin B Mangel. Achtsamkeit. Mehr Achtsamkeit. Ich meditiere noch ein wenig auf die Achtsamkeit und dann machen wir Pause.

"Hhhh, wann habt Ihr denn angefangen?" flüstere ich dem vor mir Sitzenden zu.
"Um 22.30 Uhr", flüstert er zurück, und dabei ist er so freundlich, dass ich weiß, dass ich ihn kurz gestört haben könnte.
"Möchtest Du Dich hierher setzen?" flüstert er und weist auf die Lücke zwischen ihm und seiner Mattennachbarin.
"Ja?" flüstere ich begeistert, "Darf ich?"
"Bitte", sagt er, und ich wende mich der jungen Frau zu, neben der ich sitze, zu ihren Füßen, neben ihrem Stuhl. Ich lächle sie an, und freue mich, dass sie mir nicht böse ist. Sie lächelt zurück.
"Darf ich?" frage ich, und zeige auf das Kissen unter ihrem Stuhl. "Oder brauchen Sie das?"
"Nein, nein", flüstert sie, während sie es mir rüberreicht.

"Bitte die Fenster wieder schließen," wendet sich die Frau, die die nächste Meditation anleitet, an uns, "und setzt Euch wieder gemütlich hin."
Das tun wir, alle 90. Es wird still. Diesmal bin ich dabei. Ich habe ein Kissen, das letzte im Raum, und eine halbe Matte. Was für ein Glückspilz ich bin. Man hört nichts außer leisen Atemzügen.

Da geht die Klinke, ein Lichtstrahl zieht durch den Raum, und zwei Frauen schieben sich durch den Türspalt. Ich lächle. Niemand stört sich daran, das spüre ich jetzt ganz sicher. Ich heiße die beiden im Geiste willkommen und bedaure, dass sie weder Kissen noch Matte haben. Sie wirken älter als ich. Aber ich kann jetzt unmöglich anbieten, ihnen meinen Platz abzutreten. Wir sind schließlich nicht in der U-Bahn. Ich darf mich stattdessen einfach über meinen Platz freuen. Und das tue ich auch.

"Denke jetzt einmal an alle schönen Ereignisse in diesem Jahr" fordert die Stimme vorn uns auf. "Und erfreue Dich daran". Das fällt mir leicht. So viele schöne Ereignisse in 2011. Sie spulen sich wie ein Film vor meinem inneren Auge ab, dazu breitet sich das Gefühl der Freude aus. Abschluss der Bauarbeiten, die erste Nacht im neuen Haus, die beiden neugeborenen Katzenbabies, der erste Frühling im Garten, mein Job, die Piratenarbeit, meine Familie, meine Freunde; ein Potpourrie guter Gefühle schüttelt sich über mir aus. Ich strahle jetzt, nicht nur innerlich.

"Und nun denke an jemanden, der in Not ist, der Angst hat, unglücklich ist oder auf andere Weise leidet, und schicke ihm Deine guten Gefühle." Das tue ich. Ich habe reichlich davon abzugeben, an die, denen es nicht so glücklich geht. 

"Denke jetzt an jemanden, der schwierig ist für Dich, denke an seine Not." Ja, da fällt mir gleich jemand ein. Ich sende Kurt meine guten Gedanken und versöhne mich mit den Gemeinheiten, mit denen er mich in letzter Zeit reichlich bedacht hat. Das hat mir Stress verursacht, und ich bin gar nicht sicher, ab das an dem Vitamin lag oder ob das Vitamin nicht am Ende eine Folge des Stresses war. Ich sende glückliche Gedanken, und anstatt, dass sie sich in mir verringern, mehren sie sich. Ein toller Effekt, den ich immer wieder beobachten kann. Früher hab ich mich beschwert und mich dabei schlechter gefühlt, heute schicke ich der Person nette Gedanken und fühl mich besser damit. Alles eine Sache der Technik.

Die Meditation ist jetzt zu Ende. "Wir können jetzt Kerzen anzünden, und gute Wünsche für Menschen, die uns wichtig sind, aussprechen oder auch nur denken. Wer mag, kann nach vorne kommen. Einer nach dem anderen. Und ich möchte bitten, dass dabei alle im Raum bleiben. Ich fange an." sagt der Lehrer.
Er zündet eine Kerze an, und spricht gute Wünsche für seine drei Kinder aus. Laut und klar, für alle hörbar im Raum. Und in der nächsten guten halben Stunde kommt einer nach dem anderen nach vorn, zündet eine Kerze an, manche Stimme ist schüchtern leise, andere sagen gar nichts, mancher spricht laut und deutlich.

Ich grüble, wem ich meine guten Wünsche senden soll. Und denke sofort an meine Mutter. Eben noch hatten wir telefoniert. Als ich ihr von einem Piratenstress berichtete, und ausdrückte, dass ich genauso gut in eine alte Partei gehen könnte, wollte ich das akzeptieren, was man von mir verlangte, ergänzte sie, "Ja, oder Du heiratest." Ein gelungener Witz, wir haben herzlich zusammen gelacht. In den nächsten Minuten ringe ich mit mir und meinem Lampenfieber, das mich immer ereilt, wenn ich vor Gruppen sprechen will. Ich beschließe also, zu Hause allein eine Kerze anzuzünden. Für meine Mutter und für all die Menschen, die auf ihre Gemütlichkeit verzichten und ihr Leben dabei riskieren, sich für das Wohlsein von anderen Menschen einzusetzen.
Mit einem Mal stehe ich auf, und dränge mich nach vorn, langsam aber zielstrebig. Auf einer Matte mache ich Halt, und lasse eine blonde Frau vor.
"Ich zünde eine Kerze an für das Gesundheitssystem", sagt sie, und führt ihren Wunsch weiter aus, "so dass alle Menschen, die in dem Bereich arbeiten, mit Kranken, mit Alten, mit Kindern, mit Sterbenden, das Wesentliche verstehen, und ihr Tun nicht von Profit und Gewinnmaximierung getrieben ist."  Das rührt mich, und ich sehe, wie sich in des Lehrers Gesicht, eben noch in stiller Konzentration, ein breites Lächeln setzt.

Ich lasse noch ein Frau vor, und sie sendet mit zarter Stimme gute Wünsche an ihre Kinder. Dann trete ich vor. Innerlich zittere ich, aber das ist mir egal. Ich nehme eine der wenigen übrig gebliebenen Kerzen, zünde sie an und erhebe meine Stimme, klar und laut, wenn auch ein wenig zitterig.
"Ich zünde ein Kerze an für meine Mutter", und sage meine Wünsche für sie, "und ich zünde diese Kerze an für all die Menschen, die auf ihre Gemütlichkeit verzichten und ihr Leben dabei riskieren, sich für das Wohlsein von anderen Menschen einzusetzen. Dafür bedanke ich", und hier bricht mir nun die Stimme weg. Ich schlucke und ergänze, was wohl viele der Anwesenden gedacht haben mögen, das letzte Wort: "mich."
Auf dem Weg zurück zu meinem Platz löst sich die Anspannung. Ein gutes Gefühl. Der Lehrer schließt die Kerzenrunde und entlässt uns in das neue Jahr.

Ich hatte mir zu Hause schon zwei Zehner zurecht gelegt, für die Spende. Allerdings hatte ich mit dem Gedanken gespielt, mir aus der Dose einen Fünfer zurück zu nehmen, dann läge ich immer noch über der Spendenempfehlung und könnte vielleicht noch etwas vom Buffet im Cafe bekommen.
Ich schwanke, und entscheide dann, alles in die Spendenbox zu legen. Auf dem Weg nach draußen freue ich mich über meine großzügige Entscheidung. Essen kann ich auch zu Haus.

Als Erste trete ich auf den Innenhof, mag niemanden sehen und sprechen. Eine wohlige Ruhe trägt mich. Spontan mache ich noch eine Runde um die Stupa, die von einem hellen Kiesweg umgeben, in der Mitte des Mini-Parks liegt. Zum Glück bin ich noch ganz allein im Hof.
Meine Gedanken schweifen nach Bodhgaya, an den Tempel neben dem berühmten Bodhibaum. Zwei Monate hatten mein damals 10jähriger Sohn und ich allabendlich  Hunderte von Mönchen bei ihren Koras um den heiligen Erleuchtungstempel begleitet. Ein wunderbares Spektakel.
Ich komme zurück zu mir, und schaue die niedlich kleine Stupa neben mir an. Für Tibeter ist es Ehrensache, eine Stupa in ihrem Leben zu errichten. Diese hier steht in Deutschland, mitten in Berlin, wo Grund teuer ist, und so ist sie groß genug.
Ich biege aus der Runde in den abzweigenden Kiesweg und steuere den Ausgang an. Als ich auf die Pflastersteine trete, entdecke ich etwas helles auf dem Boden. Das sieht aus wie... ich bücke mich. Und hebe einen zusammengefalteten Fünfer auf. Als ich mich umschaue, sehe ich nur eine Frau, die gerade erst aus dem Seitengebäude getreten ist. Sie hatte diese Stelle noch gar nicht passiert.
"Was soll ich nur machen?", frage ich mich. "Es ist nicht mein Geld, aber wie sollte ich denn jetzt herausfinden, wem es gehört?" Ich schaue, und überlege verschiedene Szenarien. Das, in das Café hineinzugehen und zu rufen 'wer hat diesen 5 Euro Schein verloren' verwerfe ich aus Schüchternheit. Ich mag nicht reden, nicht jetzt. Bleibt nur eine Möglichkeit.

Als ich der Frau neben dem Buffet mitteile, dass ich nur 5 Euro habe, lacht sie und sagt "Bedien Dich!"
Glücklich esse ich einen kleinen Teller voll vegetarischer Superköstlichkeiten und verschwinde dann, zurück zu meinem Auto.
Ich setze mich hinein, schnalle mich an und entscheide, meinen Sohn anzurufen. 1.00 Uhr, da ist er hoffentlich fertig mit Böllern.
"Frohes Neues Jahr" wünschen wir uns fröhlich, und geben dem anderen ein Update der Situation. Im Hintergrund höre ich ausgelassene Stimmen.
"Ist da noch ein Kind?" frage ich.
Mein Sohn lacht.
"Papa, Mama fragt, ob hier noch ein Kind ist, haha, nein Mama, das ist Papa, er spielt Wii Gitarre ohne Wii."
"Ah ja," erwidere ich, "das hört sich lustig an."
"Wir sehen uns dann morgen, ich mach mal los nach Haus," sage ich.
"Warte, Papa will Dich noch sprechen."
"Mich? Wieso denn das?"
"Weiß ich nicht" und schon habe ich den Vater meines Kindes am Apparat.
"Frohes neues Jahr!" wünscht mir meine erste Liebe fröhlich und ergänzt mit der Frage "Kannst Du Dir vorstellen, dass das Kind nächstes Jahr schon legal Alkohol trinken darf?"
"Ja, krass, oder?" Ich bin überrascht über seine offene Art. Sonst ist er doch so, ja, so weniger freundlich.
Noch mehr überrascht mich das freundliche, fröhliche Gespräch was sich nun entspinnt. Wir loben uns gegenseitig über unsere Beiträge, die das Kind zu dem begleitet haben, was es heute ist. Also jedenfalls ich klopfe virtuell seine Schulter. Nach kurzem Überlegen klopft er tatsächlich zurück. Ich bin baff. Was ist denn hier los? So viel Freundlichkeit! Waren wir nicht Fremde gewesen, die die alten schlechten Zeiten eisig verdrängt hatten? Und nun, am Neujahrstelefonat werden tolle Erinnerungen aufgewärmt.
"Weißt du noch, das Silvester daundda und daundda?"
"Ja klar, wir haben ja diverse Silvester zusammen gefeiert."
Genau genommen 16. Da war alles dabei, Parties, Kreuzberg, Neukölln, Wedding, See und Berge, Schnee.
"Wo bist Du denn?"
"In XHain. Mein Gynäkologe, erinnerst Du Dich, da waren wir vor 16 Jahren zusammen, der hat hier ein Zentrum aufgebaut."
"Der Gynäkologe?" fragt er, hörbar irritiert. Es ist ebenso irriterend wie normal für mich.
"Du machst ja schräge Sachen, Neujahrsmeditieren. Aber irgendwie cool." sagt er, und ich sage "Ja, in schräg sein bin ich gut, das weißt Du doch."
"Ja, das muss man Dir lassen."
Wow, er lässt mir was. Was ist hier los? Ich denke an den Fünfer von eben.
"Ja, ich bin halt hier, wir machen Party. Man muss sich ja anpassen."
"Wie bitte? Ich hör wohl nicht recht!" Der Punk von früher, anpassen? "Das vergesse ich sofort wieder," biete ich an, "Anpassen geht gar nicht!"
"Nein, es macht ja Spaß, mit dem Kleinen zu böllern."
"Gut, das ist eine ganz andere Motivation als Anpassen, das geht durch."

Um 1.23 Uhr legen wir auf. Auf dem Nachhauseweg wird mein Auto an der Schönhauser Allee von Explosionen erschüttert. Rock me all night long. Radioeins spielt Musik, die neu war, als ich Teenie war. Dub, und Laid Back mit der B-Seite White horse. Ich frage mich, wie sich die Teens von heute fühlen müssen, Musik zu hören, die schon Millionen vor ihnen gehört haben. Ich denke, es sollte mehr gute neue Musik erfunden werden.